KUNST AT THE DISCO! Musikvideos - ein schirniges Genre. FRANKFURT - Das dämmrige, ampelrot und pissgelb beleuchtete Gewölbe mieft nach Schweiß, der Boden des Konzertsalons klebt, die Schuhe schmatzen bei jedem Schritt. In den Ritzen funkelt goldenes Konfetti, auf dem Catwalk für Stripperinnen und Sänger tummeln Erdbatzen. Klar: Bereits letzte Woche feierte der Gibson Club sein Revival. Auch die Toilette stinkt schon wieder und unter dem Seifenspender sammelt sich der Siff. Hinter der Bar stehen Red Bull-Dosen und Moet-Flaschen.

Was ich beabsichtige ist nicht weniger, als das Musikvideo als eigenständige Kunstform zu etablieren“, nuschelt der grantlige Kurator Matthias Ullrich. Dafür zeigt die Schirn zwei Dutzend Musikvideos, die von Künstler*innen gedreht wurden: „Das Ziel des Musikvideos ist es, zwei getrennte Welten zusammenzubringen, zwei jeweils für sich bekannte Handschriften zu fusionieren ohne ihren Eigenwert zu nivellieren.“ Form follows Function, so fusioniert auch die Schirn für ein langes Wochenende mit den Frankfurter und Offenbacher Clubs, belebt sie wieder.

Musik und Videos im Gibson-Club sind ziemlich „schirnig“: Abgerundete Boomer-Ästhetik, prätentiös, professionell, provokant nur für‘s Publikum, das noch im Krieg geboren wurde. Twenty Ten was more than a year, it’s the Frankfurt’s Flair. Die Videos laufen aber auf einem LCD-Fernseher von 2007. Jeder Pixel ist daumengroß und auch aus der Ferne gut erkennen - im Gegensatz zum Video. Der Bass ist leider auch noch überdreht, klingt wie aus den getunten Opel Corsas sonntags um 21 Uhr auf dem Lidl-Parkplatz, dröhnt dumpf über die anti-sonorische Stimme von der sanft-sensiblen, non-binären Anohni.

 

Im Video filmt Colin Whitaker seine Kollegin Eliza Dougles beim Autofahren. Im zweiten Video, hier spielt die Musik Sigur Rós, filmt Ryan McGinley aus den Flats seiner Bekannten heraus Manhattan in Sepia. Im dritten Video brennen nackte, tanzende, muskulöse Männer, alles aber animiert auf Grundkurs-Niveau.

Das allererste Video mit Musik läuft auf der Pariser Weltausstellung anno 1900 (auch das allererste (nach-)kolorierte Video BTW), später gibt es Aufnahmen von Musicals und Konzerten zu hörsehen, etwa von Edith Piaf oder dem King of Rock. Dann natürlich die Beatles mit ihren halluzinogenen Musikfilmen. Manchen gilt „Strawberry Fields Forever“ als erstes Musikvideo, die Schirn setzt die Stunde Null aber bei Queens Bohemian Rhapsody (1975) an. Den Rest erledigen MTV und Youtube. Musikvideos sind dann „ein ökonomischer Verstärker“, so Mathias Ullrich. MTV ging übrigens mit dem Musikvideo zu „Video killed the Radio Star“ (bei dem ein Kind in die Luft gejagt wird) auf Sendung.

Velo-Taxis bringen die versammelte Presse an die zweite Station, eigentlich kein Club, aber immer einen Besuch wert und außerdem mit einer Jazz-Reihe im Sommer: Die Galerie Montez. Unter der Brücke, nahe der EZB – die Montez wird jetzt immer teurer wie die Bodenpreise im Frankfurter Osten. Der Velo-Taxifahrer hatte versemmelt, vor 10 Jahren ein Grundstück zu kaufen. Er ist ein bisschen hyperaktiv, spielt während der Fahrt auf dem ans Arm geschnürte Smartphone einer Joggerin herum, die an der Ampel wartet, kollidiert beinahe mit Lieferando, erzählt von der B-Elf der EZB, die unter Autobombengefahr noch immer am Eurozeichen arbeitet.

 

Der Kurator kommt in Fahrt....

 

Galerie Montez: Wolfgang Tillmanns ist ein hervorragender Fotograf, Text und Stimme klingen aber nach dem Versuch eines SPD-Ortsbeirats, Blixa Bargeld zu kopieren. Nun geht es aber ums Video! Und das zeigt collagenartig Fotos von Männerkörpern, die sich anatomisch nicht leicht zuordnen lassen. Zwischendurch sieht man einen Hoden. Das Video beginnt und endet mit zwei hart gekochten Eiern, angeknackst, einem kleinen Löffel und einer Fliege. Dazwischen tanzt und verdampft Wasser auf heißen Herdplatten. Die Silent-Disco-Bluetooth-Kopfhörer haben einen Wackelkontakt.

Fehlt in der Ausstellung:
Fatima Al Qadiri

Unser „Velociraptor“ strampelt uns weiter zum Robert Johnson, fährt in Schlangenlinien, eine atemberaubende Achterbahn. Dort hält Klaus Unkelbach, der Oberindianer des legendären Offenbacher Szeneclubs, in dem auch schon Anne Imhof oder Brian Eno aufgelegt haben, in dem das beste Soundsystem Europas ertönt, einen ungefragten Vortrag voller Widersprüche und klingt dabei wie der verkiffte anti-autoritäre Vater meines Grundschulfreunds, der später seine Realschule versucht hatte anzuzünden.

 

Video 1 von Arthur Jafa – für Kanye! Kanye West, einst gefeiert als der Schwarze John Lennon, verheiratet mit der schönsten Frau der letzten 100 Jahre, setzte mit seiner sozialkritischen Musik neue Maßstäbe. Seit einigen Jahren wirkt der Sohn einer Literaturprofessorin jedoch zunehmend paranoid, will Präsident werden, findet Trump gut, bricht auf der Bühne heulend zusammen. But just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you: Das Video, das im RJ gezeigt wird, lässt sich über die Suchfunktion von Youtube nicht finden. Mühsam muss man die URL Buchstabe für Buchstabe, Zahl für Zahl abtippen. Vor drei Jahren hatte das Video angeblich 16 Millionen Klicks, heute sind es nur noch 11 Millionen – faktisch zu wenig für einen Weltstar wie Kanye. Arthur Jafa zeigt Found Footage aus der Black Reality, also Gewalt und Gospel.

 

Video 3 von Jon Rafman. Der ist bekannt dafür, seine eigenen Träume filmisch zu animieren. Für das Musikvideo des kakophon-industriellen Technoprojekts Oneohtrix Point Never hat er sich Pappen eingeschmissen und echte Kinder beim futuristisch-apokalyptischen Kriegsspiel gefilmt. Der Atem stockt!

Die großen Musikvideo-Regisseure Chris Cunningham oder Spike Jonze wurden schon in Kunstmuseen in den Weltstädten Hannover und New York gezeigt. 2013 die bisher einzige explizite Musikvideo-Ausstellung in Cincinnati: „Spectacle. The Music Video Exhibition“. Distant Bodies Dancing Eyes“ nun in Frankfurt dann eben als die erste Ausstellung von Künstler*innen entworfenen Musikvideos. So wären Musikvideos von Künstler*innen ziemlich schwer zu finden gewesen, meint der Kurator. Ausstellungen wie „Doppelleben. Bildende Künstler*innen machen Musik“ inklusive Musikvideos in der Kunsthalle Bonn erwähnt er nicht. Vielleicht hätte er hier eine Inspiration gefunden... Doch wichtiger die Frage:

Herr Ullrich, Sie stellen ausschließlich Musikvideos aus, die von Künstler*innen inszeniert wurden. Wieso sind künstlerische Videos, die von Leuten gemacht wurden, die nicht aus der bildenden Kunst kommen, rausgefallen?

 

„Das ist eine leicht zu beantwortende Frage: Weil es sich darum dreht, dass ich als Kurator in der Schirn Kunsthalle ausschließlich mit Kunstwerken befasse, die von Künstlerinnen und Künstlern produziert werden. Und ich fand es interessant für die Kunst, dass dieses Produkt relativ ausgeschlossen ist, dass es in den wenigsten Vitas auftaucht. Es gibt unendlich viele Produzentinnen und Produzenten von Musikvideos und in der Tat ist es eigentlich interessant zu sehen, dass sich in dem Bereich diese Grenzen zwischen den angewandten Künsten und den nicht-angewandten Künsten, wenn man das so sagen möchte, schon längst aufgelöst haben. Was eigentlich ein guter Effekt ist! Und, wenn man böse sein möchte, könnte man das als einen Rückschritt betrachten, wenn man jetzt mit dieser Ausstellung wieder nur die Künstlerinnen und Künstler in Augenschein nimmt.“

Übersehen? "Doppelleben in der Kunsthalle Bonn (2020)

Nicht nur bildende Künstler können künstlerische Sachen...

Trotz aller Kritik: SEHENSWERTE VIDEOS!

Wieder geht’s weiter. Unser Velofahrer erzählt, einen seiner schlimmsten Unfälle hätte er gehabt, als er mit voller Wucht gegen einen Gehwegspfosten geknallt sei. Unfälle passierten ihm aber sonst nur selten, alle zwei, drei Wochen mal. Fünf Minuten später, nachdem wir zwei Passanten geschrammt, einmal vor einem Baum vollgebremst, einmal mit 90-Grad-Kurve einem Mülleimer ausgewichen sind, sind wieder zwei Wochen um: Wir knallen auf das Velotaxi der Vorderleute. Nichtsdestotrotz fahren die Velofahrer danach ein wildes Rennen, bei dem sie sich gegenseitig versuchen, das Überholen unmöglich zu machen, die Wege abzuschneiden, notfalls soll der andere mit seinen Fahrgästen halt in den Main fallen.

 

Bereits seekrank kommen wir im Yachtklub an und küssen den Boden. Dort werden zwei sehr eklige Videos gespielt. Björk in einem Outfit aus tausend tittenförmigen Sandsäcken gebärt weiße, klebrige Männer, die sich in Heu wälzen, bis sie zu Heumännern werden. Im nächsten Video, inszeniert von Allison Schulnik, wird’s wieder schirnig: Stop-Motion mit Knetfiguren auf Dissoziativa.

Ziemlich  schirnig!

„Die Arbeiten sind aus künstlerischer Sicht alleine schon dadurch beachtenswert, dass sie nicht für eine Ausstellung konzipiert worden sind sondern für den Konsum im Massenmedium Internet. Anstelle eine Geschichte zu schreiben, liegt eine solche in Form eines Songs schon vor, der nicht nur den Inhalt vorgibt, sondern auch die Dauer.“ - Matthias Ullrich

 

Das Konzept der Ausstellung bleibt fragwürdig. Musikvideos sind irgendwie doch angewandte Kunst, aber okay, man will den Kunstbegriff erweitern, klingt gut. Warum aber stellt man doch nur Akademie-Künstler*innen aus, die Musikvideos gedreht haben? Plus ein Video von Phil Collins als Regisseur?! Ich finde diese Frage nicht „böse“ (Mathias Ullrich) sondern wichtig.

 

Fazit: Die Ausstellung macht Spaß! Die Musikvideos überfluten einem vollkommen die Reize! Und, na klar: Ein wunderbares Gefühl, in die Clubs zurückzukehren! Gönn Dir, my non-binary brosis! Ein letzter Tipp: Kommt mit Fahrrad oder nehmt euch eins – oder so ´nen Scooter. Sonst qualmen euch die Füße. Oder halt ein Velo-Taxi, wenn’s unvergesslich werden soll…